Transgender und Geschlechtsidentität

Eva Fels

Langfassung des Referats vom 2. Juli 2010 bei der 5th European Gay Police Association Conference, Wien

Was ist Geschlechtsidentität?

Ich darf gleich vorwegnehmen, dass Geschlechtsidentität ein äußerst dubioses und zugleich typisch menschliches Phänomen ist. Tiere und Pflanzen kennen etwa keine Geschlechtsidentität, da dies einen reflektorischen Prozess voraussetzen würde.
Semantisch erkennen wir Identitätsbildungen an der Aussage "Ich bin X", wobei "Ich" für meist nicht ausreichend spezifizierte Aspekte von Menschen steht. Von Geschlechtsidentität spricht man i.d.R dann, wenn dieses "Ich" auf ein Geschlecht reduziert wird, also etwa

"Ich bin X" | X ∈ {♂, ♀}

Allerdings ist die Anzahl der Geschlechtsidentitäten nach wie vor unbekannt. Ausgehend von einem biologischen Standpunkt gibt es zumindest mehr als zwei, da es mehr als zwei natürliche Geschlechter gibt. Selbst wenn man fünf Geschlechter unterstellt, würde eines davon noch "alle anderen" umfassen müssen.
Darüber hinaus gibt es noch die gottgegebenen Geschlechter: Die Habsburger, Karolinger, Wittelsbacher oder wie auch immer die Adelsgeschlechter heißen mögen.
Soziologisch betrachtet kann die Anzahl der Geschlechtidentitäten nur mit n spezifiziert werden. Denn schließlich weicht das, was etwa für die Geschlechtsidentität von Frauen in Deutschland fundamental ist, signifikant von den Identitäten von Frauen in Anatolien oder China ab. Ja, allein ob vergleichbare Frauen eines Kulturkreises "eine" Geschlechtsidentität haben, erscheint fraglich. Ein korrektes Verständnis von Geschlechtsidentitäten muss daher auf der Zuweisung

"Ich bin X" | X ∈ {♂, ♀, Ω}

basieren, wobei Ω für eine nicht näher spezifizierte Menge von Geschlechtern steht, für die zunächst - ohne nähere Erläuterung und Beweis - lediglich Abzählbarkeit unterstellt werden soll.
Bemerkenswert ist, dass selbst Menschen, die strikt nicht als Männer oder Frauen bezeichnet werden können, also Intersexuelle, meist eine starke Tendenz entwickeln, sich mit einem der beiden dominanten Geschlechter zu identifizieren und Abweichungen zu verleugnen.
Dies resultiert einerseits daraus, dass Geschlechtskonformität einen Statuswert darstellt und Geschlechtsdefizite - also jede Abweichung vom Idealtypus - peinlich verschweigen werden. Andererseits können Individuen, die keinem der beiden dominanten Geschlechter entsprechen, sprachlich nicht adäquat erfasst werden womit sie immer auf ein "er" oder "sie" reduziert werden müssen.
Eine elementare Erfahrung von Geschlechtswechslern ist, dass sie ihr Geschlecht nicht selbst ändern können, da es ihnen von der Gesellschaft zugewiesen wird: Niemand ‚hat' sein Geschlecht
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Siehe etwa Stefan Hirschauer (1993), "Die soziale Konstruktion der Transsexualität: Über die Medizin und den Geschlechtswechsel", S.53, Suhrkamp, Frankfurt am Main.
. Geschlecht entsteht interaktiv durch kontinuierliches Verhalten. Und ebenso verändert und festigt sich die Geschlechtsidentität.
Identitäten sind verletzlich! Wer hat nicht schon einmal darunter gelitten als kein "richtiger Mann" bzw. keine "richtige Frau" bezeichnet worden zu sein? Besonders schmerzhaft ist es, wenn das eigene Geschlecht überhaupt nicht anerkannt wird, indem man etwa durch falsche Personalpronomen (er/sie) oder durch Vornamen des anderen Geschlechts adressiert wird. Insofern stellt sich die Frage:

Ist die Geschlechtsidentität menschenrechtlich schützenswert?

Die Antwort ist ambivalent. Einen Schutz gab es zunächst nur bei Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht. Die europäische Rechtskultur kennt allerdings nur zwei Geschlechter an womit per se - und auch durch die Antidiskriminierungsrichtlinie - Personen anderer Geschlechter diskriminiert werden.
Der Schutz der Geschlechtsidentität wurde erstmals im Kontext der Transsexualität relevant. Das Europäische Parlament verabschiedete schon 1989 eine Resolution zur Diskriminierung gegen Transsexuelle
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Amtsblatt der Europäischen Union, C 256 , 09/10/1989, S. 0033
, der Europarat veröffentlichte im selben Jahr "Empfehlungen zur Lage von Transsexuellen". Relevanter ist die EU-Richtlinie zur "Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen" (2006), die - wie in der Präambel klar gestellt wird - auch uneingeschränkt vor Diskriminierung aufgrund einer "Geschlechtsumwandlung" schützt.
Ein Diskriminierungsschutz für Transsexuelle ist mittlerweile in 13 EU-Staaten als Diskriminierung aufgrund von Geschlechtszugehörigkeit verankert. In zwei Staaten wird das Thema als Form der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung behandelt. In 11 EU-Staaten gibt es keinen Diskriminierungsschutz für Transgender-Personen
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Siehe Thomas Hammarberg (2009), 'Human Rights and Gender Identity', Themenpapier des Kommissars für Menschenrechte des Europarats; Abschnitt 3.1,
https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id=1476365
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Diese Gesetze beziehen sich aber nur auf eklatante Fälle der Diskriminierung, wie etwa Motivkündigungen im Zuge eines Geschlechtswechsels. Sie bieten an sich aber keinen Schutz der Identität.
Zu dieser Frage hat die Europäische Kommission für Menschenrechte 1994 ein richtungsweisendes Urteil gefällt. Im Fall Burghartz gegen die Schweiz, bei der es um die Änderung des Familiennamens eines verheirateten Mannes ging, resumierte sie
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Burghartz, Opinion of the Eur. Comm'n. H.R. (Annex), 280 Eur. Ct. H.R. (ser. A) at 37.
Für eine ausführlichere und kritische Diskussion dieses Falls und anderer Entscheidungen zur Änderung von Familiennamen empfehle ich Yofi Tirosh (2010), A Name of one's own: Gender and symbolic legal personhood in the European Court of Human Rights; Harvard Journal of Law and Gender, Vol. 33, 2010. Faculty of Law, Tel Aviv University;
http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1569587
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... das Recht auf Schutz des Privatlebens, wie es in Art. 8 §1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert ist, sichert einen Raum, innerhalb dessen jeder der Entwicklung und Erfüllung seiner Persönlichkeit frei nachgehen kann. Das Recht zur Entwicklung seiner Persönlichkeit umfasst notwendigerweise das Recht auf Identität und folglich, auf Namen.


De facto gehört das Recht auf Identität und Namen heute aber noch ins Reich der Utopie. So musste der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte noch 2002 von Großbritannien einmahnen, für Transsexuelle die Änderung des Geschlechtseintrags in Ausweisen zu ermöglichen
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Fall Goodwin vs. UK, 2002.
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Eine offizielle Änderung des Vornamens in einen des anderen Geschlechts ist außerhalb des anglikanischen Rechtsraums fast überall untersagt. Wer dies möchte muss zuerst eine Änderung des staatlich verankerten Geschlechtseintrags vornehmen. Doch dies ist eine äußerst aufwendige Angelegenheit.

Die staatliche Anerkennung der Geschlechtsidentität

Die staatliche Anerkennung des Geschlechts wird transidenten Personen in der Regel erst gewährt, wenn sie
  1. sich einem medizinisch überwachten Prozess der Geschlechtsangleichung unterzogen haben
  2. genitalanpassende Operationen vorgenommen wurden
  3. dauerhafte Unfruchtbarkeit vorliegt (der eugenische Sterilisationszwang)
  4. und eine Hormonbehandlung vorgenommen wurde.

All diese Eingriffe sind notwendig, damit GeschlechtsmigrantInnen ihr Ursprungsgeschlecht und ihre Transsexualität nicht immer wieder durch staatliche Ausweise öffentlich bloßstellen müssen. Der Operationszwang gilt überall in Europa - nein er galt überall. Inzwischen ist ein deutliches Abkehren von dieser klassischen Transsexuellen-Politik zu beobachten:

In Ungarn müssen Transsexuelle nur eine psychologisch / psychiatrische Bestätigung vorweisen. Dann werden Geschlechtseintag und Vorname geändert. Wir wissen, dass diese Regel zumindest seit 2002, vermutlich aber schon früher praktiziert wurde. Die Verwaltung des postkommunistischen Ungarns war nicht so schäbig, den Betroffenen zwischen die Beine schauen zu wollen.
In Finnland wurde der Operationszwang 2002 abgeschafft. Neben einer psychologischen Abklärung wird eine Hormontherapie von mindestens einem halben Jahr verlangt
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Das seit 1. 1. 2002 gültige Gesetz "laki transseksuaalin sukupuolen vahvistamisesta" (563/2002), schreibt zwar explizit Infertilität vor, in der Praxis wird diese allerdings infolge der Hormontherapie als gegeben betrachtet.

An dieser Stelle soll angemerkt werden, dass ich im Vorwort zur "Suche nach dem dritten Geschlecht" (Wien 2005, S.11) festgestellt habe, dass der Konnex zwischen sozialer Entmannung bzw. Verweiblichung einerseits und genitalanpassenden bzw. -zerstückelnden Eingriffen andererseits nur ein Phänomen des indoeuropäischen Raumes ist. Insofern ist es bemerkenswert, dass die Staaten der finno-ungarischen Sprachfamilie, die kein grammatisches Geschlecht kennt, den Operationszwang als erstes überwinden konnten.
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In Großbritannien konnten die Vornamen schon immer frei gewählt werden. Transsexuelle erhielten Ausweise mit passendem Geschlechtseintrag. Seit 2004 wird auch die Geburtsurkunde korrigiert, wenn die Betreffenden zwei Jahre in ihrem Identitätsgeschlecht gelebt haben und erklärten, nicht mehr in ihr Ursprungsgeschlecht zurück wechseln zu wollen. Medizinische Eingriffe sind nicht vorgeschrieben.
In Spanien wird nach dem neuen Gesetz von 2007 der Geschlechtseintrag Transsexueller nach einer zweijährigen medizinischen Behandlung geändert. Operationen sind nicht notwendig
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Ley de Identidad de Género
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In Deutschland können Transsexuelle seit 1980 auch ohne Operationen einen passenden Vornamen annehmen. Mit der 2007'er Novelle des Passgesetzes können Transsexuelle nach Vornamensänderungen schon Pässe beantragen, in denen das gelebte Geschlecht ausgewiesen wird. Ein expliziter Operations- und Sterilitätszwang ist aber nach wie vor gesetzlich verankert
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Transsexuellengesetz 1980
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In Österreich werden seit März 2010 infolge eines Urteils des Verwaltungsgerichtshofs Personenstandsänderungen auch ohne Operationen vorgenommen. Die Bedingungen dafür sind allerdings nicht festgelegt. Antragsteller werden etwa noch aufgefordert dubiose Gutachten gerichtlich beeidigter Psychiater einzuholen, die das äußere Erscheinungsbild und die Wahrscheinlichkeit eines Rückwechsels beurteilen sollen
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Bis heute gibt es in der Psychiatrie kein Verfahren zur Bewertung der Wahrscheinlichkeit eines weiteren Geschlechtswechsels. Die Gutachten, die Transsexuellen ihren Psychiatern abringen müssen spiegeln lediglich subjektive Urteile wieder. Sie könnten mit ebenso hoher Zuverlässigkeit von Zahnärzten erstellt werden.
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Perspektiven

Schon im Juni 2009 haben Österreichs Transgendergruppen ein gemeinsames Positionspapier zur zukünftigen Personenstandsänderung erarbeitet
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Zum Nachlesen:
http://transx.at/Positionspapier/ bzw. TG Positionspapier 2009.pdf
. Demnach ist der Geschlechtseintrag bei Personen zu ändern, wenn diese deklarieren, dass sie sich mit dem Ursprungsgeschlecht nicht identifiziert und ein Leben im gewählten Geschlecht führen. Schließlich ist Lebenspraxis ein viel zuverlässigerer Indikator für das äußere Erscheinungsbild und die Lebbarkeit des gewählten Geschlechts als alle möglichen Urteile von "Experten", die die Betroffenen vielleicht ein bis zwei Stunden zu Gesicht bekommen. Aus menschenrechtlichen Überlegungen muss der Personenstand ja auch infolge der Lebenspraxis und nicht aufgrund möglicher vorgeschriebener Behandlungen und Diagnosen angepasst werden.
Um ein Leben im Wunschgeschlecht aber überhaupt einmal realistisch zu leben, müsste es möglich sein den Vornamen auch offiziell zu wechseln. Wir haben uns immer dafür ausgesprochen, dass alle mündigen Personen ohne psychiatrische oder psychotherapeutische Attestierung ihren Vornamen frei wählen können sollten - auch Transsexuelle.
Während wir bei den Regierungsparteien Gesprächsbereitschaft für unser Konzept der Personenstandsänderung finden lehnt die ÖVP die autonome Wahl des Vornamens ohne irgendeine sachlich stichhaltige Begründung ab.
Tatsächlich kann man aber nicht behaupten, dass innerhalb der ÖVP ein nennenswerter Meinungsbildungsprozess zu Transgender-Fragen stattgefunden hätte. Daher bitte ich Sie - sofern Sie irgendwelche Kontakte zur ÖVP oder zum Innenministerium haben - bringen Sie das Thema zur Sprache: Wir brauchen in Österreich endlich das Recht zur freien Wahl des Vornamens. Und zwar für alle. Auch für Frauen, die Hilde oder Hugo und für Männer, die Martin oder Maria heißen wollen. Und bitte endlich ohne Diskriminierung von GeschlechtswechslerInnen. Das Namensrecht ist ein Persönlichkeitsrecht. Geschlechtsidentitäten dürfen nicht mehr vom Staat reguliert und kontrolliert werden!
Danke