Traude und Eva, Ostern 2000

Hijras

Das
"dritte Geschlecht"
Indiens

Eva Fels und
Traude Pillai-Vetschera



  
In Indien werden Geschichten über Menschen aus den Zeiten des Ramayana-Epos erzählt, die weder mit Männern noch mit Frauen identifiziert werden. Sie sollen von Gott Rama ausdrücklich gesegnet worden sein. Mit dieser außergewöhnlichen Kommunität der sogenannten hijras befaßt sich unser Artikel.   
  

Die hijras werden oft als das "dritte Geschlecht" Indiens bezeichnet. Sie sind entweder Hermaphroditen oder Männer, die sich mit einer männlichen Geschlechtsposition nicht indentifizieren können. Sie präsentieren sich weiblich, tragen Saris und nehmen Frauennamen an. Von vielen Außenstehenden, und in jedem Fall von anderen hijras, werden sie mit weiblichen Pronomina angesprochen. Ehen zwischen hijras und Männern werden sozial akzeptiert, sexuelle Beziehungen zu Frauen dagegen sind verpönt.

Die meisten unterziehen sich nach einiger Zeit der Zugehörigkeit zur hijra-Kommunität einer Kastration. Durch diese werden sie aber nicht zu Frauen, sondern lediglich zu vollwertigen hijras, zu nirvan, wie sowohl die Operierten als auch die Operation selbst genannt werden. Traditionell wurde großer Wert darauf gelegt, dass nach dem Abtrennen der äußeren Genitalien die Wunde offen blieb, damit das alte "unrein-männliche" Blut aus dem Körper austreten konnte. Etwa 40% der Kandidaten starben. Zu überleben galt als der Beweis dafür, dass die von den hijras besonders verehrte Muttergöttin Bahuchara Mata die neue hijra angenommen hat und nun durch sie wirkt. Auch die Gesellschaft sieht das so und entlohnt die hijras für ihre Tätigkeiten des Segnens und Singens.

Segnen und Verfluchen

Ihre Göttin gibt den hijras dieMacht zu verfluchen, vor allem aber Segen zu spenden. So segnen sie die Kaufleute, bei denen sie betteln. Sie segnen neugeborene Kinder und frischgebackene Ehepaare, neu bezogene Häuser ebenso wie Büros. Bei alledem präsentieren sie sich nicht nur als Sänger, sondern auch als Tänzer und Musikanten, die sich heute allerdings oft mehr der Adaption der Hitparade als dem traditionellen Chanten verpflichtet fühlen. Aber nicht von alle Inder laden sie gerne ein. Gerade die Oberschicht, für deren Segnungen hijras höhere Tarife vorsehen, stehen dem Volksbrauch argwöhnisch gegenüber. Dennoch, wem ein Kind geboren wurde, oder wer ein neues Haus bezieht, wird von den hijras Besuch erhalten. Und wird man sich über den Preis der Segnung nicht einigt, kann es schon passieren, dass eine hijra ihren Rock hochhebt, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen: Der Anblick der begradigten Genitalregion - so wissen alle Hindus - bewirkt einen Fluch , der sieben Jahre lang wirksam bleibt.

Sieben "Häuser"

Ein Mann wird nicht durch die Operation sondern durch Adoption in die Gemeinschaft zu einer hijra. DieAdoptivmutter wird als guru (Lehrer) bezeichnet; die Jüngere wird zu ihrer chela (Schülerin). Sie erhält einen neuen weiblichen Vornamen und gehört nun einem der sieben "Häuser" an, in die die hijra-Kommunität Indiens unterteilt ist.

Zwischen guru und chela besteht ein klares Weisungs- und Abhängigkeitsverhältnis nach dem Muster traditioneller indischer Familien. In den ersten Jahren werden chelas von ihren gurus in allem unterwiesen, was für das neue Leben wichtig ist. Sie werden zum Betteln geschickt und - wenn sie jung und einigermaßen attraktiv sind - oft auch in die Prostitution.

Kommt es zu Konflikten, so kann eine hijra ihrer Mutter drohen, zu einer anderen guru zu wechseln. Diese muss zwar der ersten guru eine Ablöse für ihre chela bezahlen. Gerade für produktive Prostituierte ist es aber leicht, eine neue Herrin zu finden.

In der Regel sind die Mutter-Tochter Beziehungen aber von verwandtschaftlicher Freundlichkeit und Übereinstimmung geprägt. Schließlich besteht diese Beziehung nicht isoliert, sondern ist in ein ausgedehntes "Verwandtschaftsnetz" integriert: Mit der Adoption gewinnt die junge hijra nicht nur eine Mutter, sondern eine ganze Familie aus Groß- und Urgroßmüttern, Tanten, Großtanten etc. Die Gemeinschaft gibt den hijras, die von ihrer Abstammungsfamilie meist verstoßen werden, sowohl emotionale wie soziale und ökonomische Sicherheit: Chelas haben in der Regel die Hälfte ihrer Einkommen an ihre Mutter abzuliefern. Sie können andererseits aber auch damit rechnen, dass sie selbst im Alter von ihren eigenenchelas unterstützt werden. Die einzige ökonomische Gegenleistung, auf die Töchter den Müttern gegenüber Anspruch haben, ist die Unterstützung im Krankheitsfall.
Hijras in Bangalore


Versorgungssicherheit und Autonomie

Die matrilinearen Ketten stellen für hijras also ein stabiles soziales Netz dar, das die Alters- und Krankenversorgung sicherstellt. Entscheidend - und zwar sowohl für die Einzelnen als auch die ganze Gemeinschaft - ist lediglich, dass eine suffiziente Adoptionsrate aufrecht erhalten wird. Gegenwärtig dürfte dies kein Problem darstellen: Ältere hijras mit weit über hundert Töchtern und Enkelinnen sind nicht selten.

Über die Haushaltsebene hinaus verfügen hijras über eine regionale, überregionale und sogar eine gesamtindische Organisationsstruktur. Regelmäßige Treffen dienen dem Informationsaustausch und dem Schlichten von Streitfällen. Diese sogenannten panchayats ("Ältestenrat") sind nicht vom Senioritätsprizip geprägt, sondern die Mitglieder des Raters werden demokratisch gewählt. Diese eigenständige Gerichtsbarkeit stellt die Grundlage der hijra-Autonomie dar. Die Polizei vermeidet es wohl zurecht, sich in die Vollziehung der Sanktionen einzumischen.

Urbanisierung und Wandel: AIDS

Die Glanzzeit der hijras war die Zeit der muslimischen Herrschaft, als viele von ihnen als Harems- und Hofeunuchen tätig waren. Manche brachten es zu Ansehen und Einfluß und konnten sich sogar als Minister und Schatzmeister profilieren.

Diese Zeiten sind längst vorbei. Jetzt bedroht die Modernisierung auch ihre anderen Einnahmequellen. Immer breitere Kreise lehnen die als Aberglaube empfundenen Rituale der hijras ab. Riten bei Geburten und Hochzeiten werden heute ganz allgemein kürzer gefeiert und haben an Bedeutung verloren, und wo die Reichen neue "Rituale" eingeführt haben um ihren Wohlstand zu demonstrieren (z.B. das Verteilen von Geschenken an Freunde und Verwandte nach einer Entbindung), ist kein Platz mehr für die hijras. Aufgrund der fortschreitenden Urbanisierung ist das Segnen von Häuser seltener geworden. Das Segnen von Mietwohnungen ist erst recht nicht mehr gefragt.

Durch die Einbrüche im traditionell-rituellen Einkommensbereich wurden hijras in die urbane Prostitution gedrängt. Dies hat ihre weibliche Geschlechtsposition als Objekte des männlichen Begehrens gefestigt und sozial verankert, zugleich aber die Gemeinschaft mit einem neuen Problem konfrontiert: AIDS.

Manche hijras gehen sehr leichtsinnig mit der Gefahr um. Manche, weil ihre Freier Präservative ablehnen, andere, weil sie davon überzeugt sind, dass sie diese nicht notwendig hätten. Die Göttin, die sie trägt, werde sie schon beschützen.

AIDS ist die erste Krankheit, bei der gurus die Unterstützung ihrer chelas ablehnen. Nicht wegen der Unheilbarkeit, sondern wegen der Vorstellung, dass sich HIV schon im normalen Zusammenleben übertrage. HIV-positive hijras werden aus ihren Wohngemeinschaften ausgeschlossen. Sie erhalten natürlich auch sonst keine Unterstützungen , auch vom Staat nicht Kein Wunder, dass hijras wenig Interesse an HIV-Tests haben. AIDS ist die erste Krankheit, die das soziale Netz der hijras ankratzt. Die Stabilität der Gemeinschaft wird hinterfragbar.

Die Expansion der Sex-Arbeit hat den gurus jüngerer hijras gute Einkommen verschafft. Die meisten Prostituierten sind unter 25. Ältere und unattraktive hijras werden schnell aus dem Rotlichtmilieu verdrängt. Nur als Zuhälter können hier einige von ihnen noch die Einkommen erzielen, die an jene aus traditionellen religiösen Diensten heranreichen.

Diese Altersklasse der 25- bis 35- jährigen, die selbst noch nicht genug chelas hat um sich aus der Aktivbeschäftigung zurückzuziehen, drängt nun immer stärker in die reguläre Lohnarbeit. Einige hijras arbeiten schon für Inkassobüros oder absolvieren EDV-Kurse, um später einen Job annehmen zu können. Konflikte mit der Gemeinschaft und den gurus werden damit unvermeidbar. Viele hijras kommen aus ärmeren Klassen oder mussten die Schule abbrechen. Ihre Analphabetenrate liegt wie die indischer Frauen bei 60%. Wenn sich nun einige besser gebildete hijras am Arbeitsmarkt profilieren können, müssen bettelnde hijras befürchten, dass man ihnen mit Verweis auf die arbeitenden hijras weniger schenken wird.

Die langfristig wohl gravierendste Gefahr droht der hijra Gemeinde aber von der Transsexualität selbst. hijra zu werden bedeutete ein Ablegen der Männerrolle, Anlegen weiblicher Kleidung, Tragen von langem Haar, Übernahme weiblicher Gestik, und - in den meisten Fällen - Entfernen der äußeren männlichen Genitalien. Es bedeutete aber nie "Frau werden", auch wenn hijras immer wieder erklären, dass sie sich "als Frauen fühlten".

Heute werden auch für hijras Hormone und plastische Operationen immer attraktiver. Statt der traditionellen religiösen Beschneidungsart wählen hijras heute meist ein Verfahren, bei dem unter Lokalanästhesie die Genitalien entfernt und die Blutungen gestillt werden. Wenngleich eine Genitaltransformation nach westlichem Stil für hijras unfinanzierbar ist, wird sie zunehmend gewünscht. Die weibliche Repräsentation ist längst über Habitus und Kleidung auf die Körper selbst übergegangen.

TransGender-Personen der Ober- und Mittelschicht versuchen zunehmend, einen eigenen westlich-orientierten Weg zu gehen ohne sich den hijras anzuschließen. Was vor fünfzig Jahren noch undenkbar war, wird nun zur Realität: Transsexuelle lassen sich im Ausland operieren und beginnen nun auch in Indien, als Frauen zu leben. Sie lehnen es dann auch ab, einem "dritten Gerschlecht" zugeordnet zu werden.

Es ist zu erwarten, dass diese Einstellung langsam stärker werden wird. Das indische "dritte Geschlecht", das sich über Geschlechtsdefizite definiert, scheint nun durch die Überwindung seiner weiblichen Geschlechtsdefizite bedroht.

 

 

Zu den Autorinnen

  Traude und Eva, Ostern 2000

Traude Pillai-Vetscherea ist Ethnologin und lebt in Wien. Sie beschäftigt sich vor allem mit indischer Volksreligion, dem Kastenwesen und Frauenthemen.

Eva Fels, Empirikerin, ist Obfrau der TransGender-Vereinigung TransX und Hijra aus dem Haus Hyderabad.

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Erschienen in FrauenSolidartität, Heft Nr. 78 (4/2001), S. 18 f.   

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Fotos von Hubert Schatz (Wien 2000) und Eva Fels (Bangalore 2000)